Gefährte und Fahrräder

Der gemeine Sinn des Wortes Fahrrad greift nur wenig, führen wir und die Bilddinge vor Augen, die in Sigrid Redhardts neuen Arbeiten auf ganz eigene Weise funktionieren.
Nicht allein, daß sie sich in verschiedene Richtungen simultan zu bewegen vermögen, sie haben sich auch der Schwerkraft entledigt. Die Kohärenz aller Einzelteile folgt nicht nach Maßgabe der Mechanik, sie ist an den Ort ihres Erscheinens in einem komplexen inhomogenen Bildraum gebunden.
Auch ist die Art des Umgangs mit diesen Fahrzeugen, die besser Gefährte hießen, nicht eine des gewohnten Benutzens. Sie ist spielerisch, ein Spiel, das gefahrvoll und waghalsig, lustvoll ist. Die menschlichen Figuren, die wir dieses Spiel treiben sehen, befinden sich mit den „Gefährten“ in der Schwebe zwischen Beherrschung und beherrscht werden.
Der Raum, den die Akrobaten durchmessen, ist keine Bühne, auf der sie als Akteure auftreten und verschwinden könnten; er geht ihnen nicht voraus, sondern entsteht allererst aus ihrer Bewegung, um gleichzeitig die Erscheinungsweise dieser Bewegung zu bedingen. Würde der „Kleine Einradfahrer“ seine Position verändern — der verschachtelte, mimetisch uneinholbar Vorstellungsraum, den die Überlagerung gestückelter Farbformen produziert, müßte notwendig in sich zusammenfallen: Wie die Verlagerung nur eines Sternchens im Kaleidoskop das Muster insgesamt verwandelt.
Daß die Ausdehnung von Bildraum und Bildfläche aus dem Fromsinn der figürlichen Motive folgt, ist auch durch Redhardts Arbeitsweise begründet.

Papier, auf Leinwand aufgezogen, dient als Bildgrund für eine gegenständliche Zeichnung, die die Wahl des Formats bestimmt. Meist entspricht der Maßstab der Figuren der realen menschlichen Größe, wodurch sie dem Betrachter nahe sind.
Dem Zeichnen parallel verläuft ein Arbeitsgang, der fast gegensätzlich ist. Redhardt bemalt mit Farbpigmenten und Binder, mit Lackfarbe große Blätter aus Papier, in unterschiedlichem Duktus, glatt-opak oder gestisch, musterartig oder den Farbton modulierend: ein Reservoir von Darstellungsmitteln, das nicht im Hinblick auf eine konkrete Bildvorstellung entsteht.
In der Genese des Bildes werden daraus Formen gerissen und geschnitten, ausgetauscht, Konstellationen verschoben, was erfordert, daß die Fragmente des Bildganzen zunächst provisorisch angebracht werden, bevor sie, mit Klebstoff gesehen, ihren unverrückbaren Platz einnehmen. Das etwa ist der Hergang eines künstlerischen Arbeitsprozesses, der weniger von Spontanität als von Kalkül getragen ist.
Um Redhardts Bildlichkeit zu verstehen, sollten wir ein naheliegendes Beispiel zum Vergleich nehmen: Matisse ging in seinen späten „Papiers découpés“ auch von bemalten Papieren aus, die allerdings nur einfarbig gouachiert sind. Er gliedert die Bildfläche parataktisch, womit er vom Zentrum des Bildes absieht, seine Grenzen dagegen stabilisiert. Redhardt wählt den umgekehrten Weg, sie richtet die Bildgrenzen nach dem Zentrum aus und destabilisiert dadurch ihre tradierte Orthogonalität. Die Außenform kommentiert schon das innere Geschehen: sie ist im prekären Gleichgewicht beim „Kleinen Einradfahrer“, horizontal ausgreifend bei der „Mondscheinfahrt“, um sich selbst kreisend beim „Damensolo“. Selten nur assoziiert die Randgestalt selbst Gegenständliches wie beim „Fahrradauto“.

In dem Maße, wie sie den hergebrachten Rahmen abstreifen, verlassen Redhardts Malerei-Collagen den Begriff des Bildes als „Fenster“, was Distanz bedeutete, greifen in den Betrachterraum hinein, wie sie gegenläufig ihn ins Bild lassen.
Aus der Nähe betrachtet, wechseln vielfarbige geklebte Flächen einander ab, tritt der Pinselduktus hervor. Mit größerem Abstand wandeln sich die Flächen zu imaginären Räumlichkeiten, die jedoch den Räumen der Erfahrung unvergleichlich sind. Entfaltete das Bild in der ersten Sichtweise schon eine planimetrische Bewegung, so kommt jetzt eine perspektivische hinzu: Die Kreisbewegung des „Damensolos“ erfährt durch die Gegenüberstellung von kreisendem Duktus und starrem Kachelmuster in der Raumtiefe die komplementäre Bodenlosigkeit, die der lustvollen Selbstbezogenheit ihrer Hauptfigur entspricht.
Bei der „Mondscheinfahrt“ greift die Frau nach links in eine nächtlich ungewisse Tiefe, die sich jedoch erst einem größeren Betrachterabstand auftut.
Indem eine Figur, ein Gegenstand verschiedenfarbige Flächen durchläuft, wechselt auch die Dominanz des Konturs, vermag sich scharf abzusetzen ebenso wie mit seinem Kontext zusammenzugehen.
Ein farbiges Feld kann Partien einer Gestalt in den Hintergrund drängen, ein anderes wird ihr gegenüber zum Grund. Der mehrfach mögliche Umschlageffekt im Auge des Betrachters, der auch bei reinen Farbflächen auftritt, bedingt die komplexe Struktur der Bilder, wo Lichträume, Reliefräume und rein graphische Spuren unversehens sich durchkreuzen. Nie jedoch gerät sie in die Nähe einer Überforderung des Adaptionsvermögens, die uns in der Op-Art begegnet.

Fernand Legér machte die für ihn weitreichende Beobachtung, daß der Mensch immer im Verhältnis zu den ihn umgebenden Geräten, Maschinen auftritt. Ein Großteil seines Werkes lebt aus dieser Gegensatzbeziehung.
Sigrid Redhardts „Fahrradfahrer“ stehen in solcher Tradition, doch verschieben sie ihren Sinn. Die Schale technischer Funktion aufbrechend treten Fahrer und Räder in eine verlebendigte Beziehung ein. Darin begründet sich ihre Verwandlung als Windrad, als Mondsichel, vollzieht sich die Vermählung eines Dinges mit seinem Schatten.
Die erotische Phantasie produziert sich an Redhardts „Gefährten“ nicht in der Form von Ersatz. Sie scheint sich im Gegenteil erst ihres spielerischen Umgangs mit ihnen zu verdanken.
Die Frage gegenseitiger Beherrschung löst sich in einer Coincidentia oppositorum.


Martin Hentschel

In: Ausstellungheft „Sigrid Redhardt“, Galerie Elke und Werner Zimmer, 1985

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