Sigrid Redhardt – Stellagen I–III, 2004-2009

I
Die Malerin Sigrid Redhardt hat in den vergangenen dreißig Jahren ein vielfältiges und eigenständiges Werk geschaffen, das in verschiedenen Techniken immer wieder um das Bild des Menschen kreiste, wobei die Darstellung von Frauen eine besondere Rolle spielt. Am Anfang der 1980er Jahre arbeitete sie in einem freien, expressiven Modus und entwickelte eine unverwechselbare Bildsprache aus collagierten Elementen, die abstrakt bemalt waren und sich erst im zusammengesetzten Gesamtbild zu Figuren und szenischen Darstellungen fügten. Die großformatige Malereicollage „Rasenmäher“ aus dem Jahr 1989 in der Sammlung des Museum Kunstpalast ist ein kennzeichnendes Beispiel für diese Phase ihrer künstlerischen Entwicklung. In Bildfindungen wie diesen war die Darstellung der Figur bzw. des Gegenstandes ästhetisch gebrochen; sie basierte nicht auf unmittelbarer Naturbeobachtung, sondern verdankte sich einem mehrfach gefilterten Wahrnehmungsvorgang, in dem die Wiedergabe des Gegenstandes stark von rein malerischen Entscheidungen geprägt ist. Als die Künstlerin sich dann während der 1990er Jahre in ihren großen Bildcollagen auf monumentale menschliche Figuren und mythologische Szenen konzentrierte, blieb auch in diesen massigen Gestalten, denen in den Worten von Gabriele Uelsberg „jegliche fleischliche Präsenz“ fehlte (1), ein eigentümliches Moment der Distanz vorhanden, das sich auf die konventionalisierte Formensprache dieser Bilder zurückführen lässt. Stephan von Wiese sprach in diesem Zusammenhang von einem „negativen Pygmalion-Prozess“, in dem nicht der Stein zum Leben erwache, sondern im Gegenteil der Leib versteinere (2). Arbeiten wie die mythologische Collage „Die Töchter des Pelias II“ von 1992 (8 Teile, zus. 320 x 240 cm) oder auch „Flieger I“, eine Malereicollage von 1996 in den Maßen 150 x 500 cm, stehen symptomatisch für diese Phase. Diese Bilder beeindrucken durch eine extrem stilisierte Monumentalität und wirken in ihrer rigorosen Formalisierung wie späte Verwandte von Barockopern zu mythologischen Themen; man denke etwa an „Dido and Aeneas“ von Henry Purcell (1659 – 1695), wo ein antiker Stoff in die Formkonventionen des 17. Jahrhunderts übertragen wird. In vergleichbarer Weise übersetzt Sigrid Redhardt in ihren mythologischen Bildern den Stoff in einen von ihr selbst gestifteten Stil. Redhardts Malerei ist bis zu dieser Phase gekennzeichnet durch eine künstlerische Konzeption, die nicht auf Beobachtung und Realismus basiert, sondern auf einer künstlichen Formgebung, die sich auf Traditionen früherer Malerei berufen konnte – so ließe sich eine Linie von der metaphysischen Malerei Giorgio de Chiricos, Carlo Carràs und Alberto Savinios zur Transavanguardia eines Francesco Clemente, Sandro Chia, Enzo Cucchi oder Mimmo Paladino ziehen, die ihrerseits bis auf die Malerei der italienischen Renaissance, etwa von Paolo Uccello, zurückweist.

Bis zum Ende der 1990er Jahre steht Sigrid Redhardt in der Tradition einer Kunst, die das Naturvorbild stark relativiert und den Erfindungscharakter der Malerei in den Vordergrund rückt. Sigrid Redhardts Figuren waren immer gekennzeichnet von dieser Distanz zur natürlichen Welt.

II
Drei einfach römisch nummerierte Stellagen ohne Titel aus den Jahren 2004 – 2009 eröffnen Sigrid Redhardt ein neues Terrain, sie haben eine ganz andere Grundlage. Jede dieser Stellagen besteht aus 2 Teilen mit jeweils 12 Gemälden im Format 45 x 35 cm, die Gesichter junger Frauen zeigen, die in realistischer, teils nahezu fotografischer Genauigkeit wiedergegeben sind. Eine eingehendere Betrachtung erweist, dass einige dieser Bilder nach demselben Vorbild gemalt wurden, und in der Tat verhält es sich so, dass alle hier vor Augen stehenden Bilder nach demselben Modell entstanden – einem jungen, hübschen Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenenalter; ein Motiv, das für die Malerei von unwiderstehlichem Reiz ist, denn es thematisiert die Schönheit derart selbstverständlich, dass keine weitere inhaltliche Behauptung mehr nötig ist. Auf den insgesamt 72 Bildern erscheint die junge Frau in sehr unterschiedlicher Form, mitunter wirken einzelne Bilder jedoch auch sehr ähnlich. Die fotografischen Vorlagen entstanden dabei in verschiedenen Jahren, es sind keine professionellen Atelierfotografien, sondern Amateurfotos. Insgesamt repräsentieren die Fotografien eine entscheidende Entwicklungsphase im Leben der dargestellten jungen Frau. (3)
Eine derart intensive Auseinandersetzung mit einer einzigen Person lässt unweigerlich an die malerische Gattung des Portraits denken, doch Redhardts Stellagen sind keine Portraits im engeren Sinne. Folgte man etwa der paradigmatischen Forderung des Schweizer Malers Ferdinand Hodler an ein Portrait, so würde Redhardts Bild sicher nicht als Portrait zu qualifizieren sein. Hodler schrieb 1888: „Der Zweck eines Bildnisses besteht darin, das Wesen des Dargestellten in seiner Unbedingtheit wachzurufen. Die Ähnlichkeit muss vollständig und packend sein. Das Bildnis ist aber auch ein Werk, das die Merkmale seines Schöpfers trägt. Ein Bildnis ist keine Fotografie, es ist ein Werk individueller Beobachtung.“ (4) Genau hier erweist sich Redhardts Arbeit als gegensätzlich, denn ihre einzelnen Gemälde entstanden ja nach Fotografien und nicht nach der Natur. Ihr serielles Vorgehen findet in der malerischen Figurendarstellung des 20. Jahrhunderts zahlreiche Vorläufer, die in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zur Aufgabe des Portraits stehen wie ihre Stellagen. Am deutlichsten hat dieses relativierende Moment wohl Andy Warhol formuliert, als er dreißig Mona Lisas unter dem Titel „Thirty Are Better Than One“ ironisch zusammenstellte.(5) Sigrid Redhardts Stellagen sind zwischen dieser Programmatik und dem Einzelportrait anzusiedeln. Sie sind keineswegs nur ironisch wie die Serie von Warhol, sondern haben einen ernsthaften Hintergrund. Entscheidend ist in ihrem Werk, dass es nicht um die psychologische oder biografische Persönlichkeit ihres Modells geht, sondern dass dieses – gleichsam geschützt vor allzu privaten Fragestellungen – für ein allgemeines, überindivididuelles Thema steht: die Suche nach Schönheit in der Malerei. Das Thema dieser Bilder ist eher der Prozess der Malerei, höchstens das Portrait als Malerei und sicher nicht das Portrait als Portrait. Da ihre Einzelbildnisse völlig frei von Psychologie sind, eröffnen sich andere, allgemeinere Fragen wie etwa jene nach der Beziehung zwischen Fotografie und Malerei. In diesem Verhältnis spielt die Zeit eine wesentliche Rolle, und Redhardts Bilder demonstrieren, wie der größere Zeitaufwand der Malerei gegenüber dem fotografischen Vorbild dem Motiv eine andere Tiefendimension verleiht und das Gemälde so mit zusätzlicher Bedeutung auflädt. Ein Foto repräsentiert den Bruchteil einer Sekunde, ein gemaltes Bild einen wesentlich längeren Zeitraum. Wie um diese Tatsache noch zusätzlich hervorzuheben, hat Sigrid Redhardt mehrere Gemälde nach derselben fotografischen Vorlage gemalt und diese dabei mitunter so stark abgewandelt, dass diese einheitliche Quelle nicht sofort bemerkt wird, sondern erst nach sorgfältiger Betrachtung. Ihre Gemälde nach Fotografien verweisen deutlich in die Richtung genauerer, langsamer Beobachtung. Sie spricht selbst von den Fotografien als von einfachen Erinnerungshilfen. Noch immer malt Sigrid Redhardt nicht nach der Natur, aber sie nähert sich mit diesen Stellagen einem Beobachtungsideal an, das der Malerei ein lange verschollen geglaubtes Potenzial wieder zugänglich macht. Die 72 Einzelbilder fordern zur vergleichenden Betrachtung heraus und erzeugen dabei fast absichtslos ein großes Vergnügen an der Komplexität malerischer Prozesse. Während der Betrachtung lassen sich die Veränderungen des Modells studieren, die einerseits auf den verschiedenen Fotografien beruhen, denen die Gemälde sich verdanken, die andererseits aber auch auf die Malweise zurückzuführen ist, die sich von Bild zu Bild ändern kann und in der fotorealistische Genauigkeit neben kühner Umrisszeichnung, dichte, bunte Farbigkeit neben Grisaille, opak neben schillernd, pastos neben glatt, gemalt neben collagiert zu entdecken ist. Diese Einzelgemälde basieren auf wenigen fotografischen Vorlagen und vertiefen durch ihre reiche formale Staffelung einer Vielfalt von Eindrücken das Potenzial dieser Vorlagen. Die Stellagen entfalten einen großen Reichtum an Sinneseindrücken, der sich langsam und wiederholt, bei jeder neuen Betrachtung wieder empfinden lässt.Sigrid Redhardts Stellagen lassen sich als eine Meditation über die Möglichkeiten figurativer Malerei ansehen, die gerade wegen der ubiquitären Präsenz von Fotografien und digitaler Bilder in unserer Welt heute besonders notwendig und wertvoll ist, denn sie kann unseren Blick heilsam entschleunigen, uns wieder zur Konzentration auf die Schönheit der Welt und unsere Wahrnehmung derselben veranlassen und uns eine Wirklichkeit vor Augen stellen, in der sich die Welt durch den unverwechselbaren Blick einer Künstlerin spiegelt.


Kay Heymer

in: Ausstellungskatalog „Sigrid Redhardt, Projektionen“, 2013, S. 34–36

1) Gabriele Uelsberg, in: Sigrid Redhardt. Solingen u. a. O.: Deutsches Klingenmuseum, 1998, S. (38).

2) Stephan von Wiese: „Malschichten. Zu Vitalität und Versteinerung im Werk von Sigrid Redhardt“, in: Sigrid Redhardt, Kunstverein Virtuell-Visuell e.V. Dorsten, 2006, S. 43 In einem Gespräch am 24. Mai 2012 gab die Künstlerin in ihrem Atelier viele wertvolle Hinweise auf die Entstehungsbedingungen der Tafeln, die in diesen Text eigeflossen sind.

4) Zitiert nach: Patricia Pochard, Hrsg.: Dem Portrait auf der Spur. Serienbild und Variation in Zeiten der Moderne. Ingelheim / Mainz: Internationale Tage Ingelheim / Verlag Hermann Schmidt, 2002, S. 55

5) Zum seriellen Portrait in der Moderne vgl. den Essay von Gottfried Boehm: „Lebensspur. Zum Bildnis im Zeitalter der Moderne“, in: Pochard, Dem Portrait auf der Spur (wie Anmerkung 4), S. 10 – 23.

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