Warum hat das Kamel keinen Kopf?

Zum figurativen Shaped Canvas bei Sigrid Redhardt

Das figurative Shaped Canvas im Werk von Sigrid Redhardt verbindet Realismus und Abstraktion. Abstrakte Form ist schon einmal die unregelmäßige collagierte Bildform aller Werke: Kein Bild gleicht im äußeren Umriß dem anderen, jedes Werk ist schon in seiner Silhouette , also in seiner Großform, abstrakte Figur. Diese abstrakte Großform aber ist nicht isoliert zu sehen, sie leitet sich ab vom Bildgegenstand, der wiederum ganz real erscheint.

Alles ist wie aus dem Leben gegriffen: Die Türkin, die mit statutarischer Ruhe dasteht, trägt typisch orientalische Kleidung in typisch orientalisch-bunter Farbigkeit. Das Kamel hinter der Türkin hat eine richtige gestreifte Kameldecke auf den Höckern. Eine Situation, wie man sie täglich im Orient erleben kann, zugleich habe auch eine Situation von großer Künstlichkeit. Denn warum hat das Kamel keinen Kopf? Warum hört das Bild mit der farbig-intensiven Kameldecke plötzlich auf? Was ist das vorherrschende Element: das figürliche realistische Motiv oder die abstrakte Form?

Diese Frage läßt sich nur so beantworten: Beides steht genau im Gleichgewicht, bedingt einander, steigert einander, das eine treibt das andere bevor: Der Bildgegenstand bewirkt eine zunehmende malerische Auflösung, die malerische Auflösung auf der anderen Seite sucht das Gerüst de Figur. Eins bewirkt das andere, Figur und Grund sind miteinander geklammert, dies verleiht den Werken eine dialektische Spannung.

Die Seerosen-Bilder verbinden ähnliche Gegensätze: Das Bild ist wiederum zugleich abstrakt und real, zugleich flach und tief, zugleich fernsichtig und nachsichtig: das kleine Segelboot im abstrakten Seerosenteich läßt die Maßstäblichkeit völlig umkippen. Fast alles löst sich in Malerei auf - und hat doch zugleich die Genauigkeit eines Farbfotos.

Ganz merkwürdig dann die Szene bei „Rock wie Hose“: Die Malerin kniet nackt am Boden und malt mit den Fingern Figuren in den Sand. Sind diese Figuren der Schatten eines Mannes oder einer Frau? Hat die Sandzeichnung überhaupt etwas mit der stehenden Figur zu tun? Neben der abstrakten und der realen Ebene erscheint hier noch einmal eine dritte, nämlich surreale. Was in diesen Bildern miteinander geklammert ist, erscheint wie ein künstlerischer Balanceakt, der mit verschiedensten Bildebenen jongliert, die in einem empfindlichen - und zugleich sehr sinnlichen -
Schwebezustand zur Präsenz gebracht werden. Es scheint sich hier alles sinnenfreudig - abstrakt wie real - auseinanderzuspreizen und können doch im nächsten Augenblick schon wieder in sich zusammenstürzen, denn diese Collagen schwanken in sich, sind labil gefügt.


Stephan von Wiese

Text zur Ausstellung „Sigrid Redhardt“ Kunsträume Köln Krings-Ernst , Köln 1985

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