Janus - Körper

Das titelgebende Thema „Zwei Körper“ faßt eine Werkreihe zusammen, die zwar zeitlich auf den Pelias-Zyklus folgt, die jedoch im Werk von Sigrid Redhardt als gestalterisches Prinzip und Thema bereits früher entwickelt wurde. Großformatige Darstellungen von menschlichen Körpern, die fast dialektisch einander zugeordnet sind, indem sie sich aufeinander zubewegen wie bei den „Fliegern“ von 1982, oder die scheinbar untrennbar miteinander verschränkt sind wie in den „Paaren“ von 1982 und den „Paarungen“ von 1996, sind künstlerische Formulierungen, die Sigrid Redhardt immer wieder neu in ihren Bildern artikuliert. Die Menschenpaare, die sie in diesen Gemälden einander zuordnet, sind Akte, massiv und kompakt, von nahezu klassischer Monumentalität, aber stets fragmentarisch in der Wiedergabe, da die Körper in den langgestreckten Bildformaten immer angeschnitten bleiben und zerbrochen wirken wie Torsi in antiken Skulpturen. Die Formate dieser Werkgruppe werden vom Thema bestimmt. In überproportional gestreckten Querformaten werden die Figuren wie in einem überdimensionierten Fries eingespannt und weisen in ihrer Fragmenthaftigkeit oftmals über die Bildgrenzen hinaus.

In der frühen Arbeit „Flug“ von 1995 aus dieser Serie werden zwei unterschiedliche Doppelfiguren miteinander verknüpft. Im langgestrickten Querformat von 150 x 500 cm bilden die zwei aufeinander zufliegenden Gestalten im Vordergrund, die als Körper komplett und nicht angeschnitten sind, den Kontrast zu der großen Doppelfigur im Bildgrund, die die malerische Gestaltung des Hintergrundes bestimmt. Dabei wirken die monumentalen Figuren, deren Unterleiber im Zentrum des Bildes ineinander verschränkt zu sein scheinen, körperhaft und abstrakt zugleich. Sie binden sich derart an den Untergrund, daß ihre räumliche Verortung unmöglich erscheint und sie gleichsam Bildgrund und Figur in einem darstellen - mal vorstellbar als Wolkenformation, als malerische Oberflächengestaltung oder eben als menschliches Paar. Vor dieser räumlichen und kognitiv offenen Gestaltung erscheinen die beiden Flugfiguren im Vordergrund in ihrer collagiert-schablonenhaften Setzung sehr konkret und bestimmt, wie sie sich von rechts und links symmetrisch aufeinander zubewegen. Die beiden Figurenpaare im Bild stehen damit auch für sehr unterschiedliche Raumbewegungen. Während der Flug der beiden „Schwebenden“ losgelöst und frei ist, wirkt im Gegensatz dazu die Gestaltung der Doppelfigur des Hintergrundes mit ihrer mächtigen Verknotung mehr als statische Rotation denn als Raumveränderung.

Die Paare, denen Sigrid Redhardt in ihren Gemälden Gestalt gibt, sind stets Akte von Mann und Frau. In dieser Gegenüberstellung findet die Künstlerin für ihre malerische Gestaltung die Bedingungen von Gegensätzlichkeit und Kontrast, die sich in der Umsetzung der formalen Elemente widerspiegeln. Die Strenge der Komposition, die Üppigkeit der Malerei und die Wahl der Farben, die sich im Spektrum von kühlem Rot zu Blau bewegen, bilden Kontraste in der Gestaltung, die jedoch immer wieder direkt aufeinander bezogen bleiben. Die Doppelung der Körper in Sigrid Redhardts Arbeiten gilt vor allem der Vervielfältigung der Aspekte und Richtungskoordinaten, unter denen sich die Betrachtung des Bildes vollzieht. Mann und Frau, kalt warm, Statik und Bewegung, einwärts und auswärts, Hinwendung und Abwendung, Nähe und Ferne, Abstraktion und Konkretion, das alles sind Gegensätze, die an den Körperpaaren manifest werden und die Betrachtung determinieren.

Auch wenn es sich bei den „Janus-Körpern“ um Akte handelt, fehlt ihnen jede fleischliche Präsenz. Die Oberflächen der Körper wirken fast statuenhaft und wie aus Stein geformt. Auch die Farbigkeit, deren Wärmewerte recht reduziert sind, weisen auf eine Monumentalität hin, die nichts Natürliches, sondern eher etwas Mineralisches an sich trägt. Immer wieder arbeitet Sigrid Redhardt in Umkehrung unserer erwarteten Erfahrung. Formen, die wir zunächst eindeutig benennen, erweisen sich im zweiten Hinsehen als etwas anderes, die Fülle und Prallheit der Gestalten wird in Ihrer Lebendigkeit zurückgenommen, indem sie wie Steinstatuen wirken. Die Farbigkeit der Bilder ist immateriell und basiert in den Schwerpunkten auf Blau und Grau, womit einem expressiv-realistischen Charakter entgegen gewirkt wird. Die Drehung, in der die Doppelkörper ineinander verschränkt sind, wird mal einwärts, mal auswärts vollzogen und ist in einigen Bildern so in den Bildausschnitt eingepaßt, daß die Fragmentation einen so hohen Grad erreicht, daß die Figuren gerade eben noch als Körper erkennbar bleiben.

Immer wieder ist auch die Zuordnung der einzelnen Formen im abstrakten Kontext von Interesse. Betrachtet man die Arbeiten aus großer Distanz, fallen die sehr stringent durchgeführten kompositorischen Elemente ins Auge. Als ob sie einer inneren Inversionssymmetrie unterlägen, verhalten sich rechte und linke Bildhälften oftmals genau umgekehrt symmetrisch, ohne jedoch Formen zu wiederholen. Linien, Flächen und Körper sind aufeinander bezogen, Farbigkeiten werden wiederholt, und im Zentrum des Bildes, wo sich die Gestaltung meist konzentriert, erreicht die Künstlerin eine Präsenz und Räumlichkeit, die immer wieder irritiert, da sich aus der Mitte die Formen wachsend entwickeln. Im Zentrum der Bilder Sigrid Redhardts ist die Gestaltung offen, wenn der Oberschenkel der Frau zum Oberschenkel des Mannes wird und umgekehrt. Die Offenheit führt in einigen Arbeiten sogar dazu, daß die als Diptychen konzipierten Gemälde getrennt im Hochformat die beiden Gestalten von Mann und Frau als gleichwertige Einzelbilder wirksam werden lassen.
Fast wie bei einer Spielkarte wird die Lesbarkeit und Beziehungssetzung der Figuren untereinander umgekehrt, jedoch ohne - wie bei einer Spielkarte - nur zu wiederholen. Wie aus einem überdimensionierten, großen Bild herausgeschnitten wirken manche dieser Kompositionen, was eben auch durch den collagierenden Vorgang der Entstehung unterstützt wird.

Die von Sigrid Redhardt verwandte Collagetechnik, bei der sie immer wieder ganze Körper, Körperhaltungen bis hin zu einzelnen, fragmentierten Körperteilen - mal spiegelsymmetrisch umgekehrt, gedreht oder in den Proportionen verschoben - in den Bildern wiederholt, führt zu Doppeldeutigkeit in allen Elementen. Immer wieder tauchen im Kontext von figürliche Darstellung Papiere und Papierreste auf, die aus einem völlig anderen Kontext - anderen Bildern - entlehnt wurden und die dann im jeweils neuen Bild eine gewandelte Bestimmung erfahren. Dieser ständige Wechsel von Elementen der Gestaltung, die Umkehrung von bereits formulierten künstlerischen Setzungen für neue Bilder und das miteinander Verwobenen der einzelnen Bildkomponenten führt zu einer Prozeßhaftigkeit der Arbeiten, die wie in einem unaufhörlichen Fluß jede Form zur Bedingung werden läßt für die nächste und in der jedes Bild Voraussetzung wird für die weiteren Gestaltungen. Die Entwicklung der Gemälde von Sigrid Redhardt im Kontext von Serien und Werkreihen ist daher zwangsläufig, wobei die Themen im Fortlauf der Arbeit neue Inhalte bekommen.


Gabriele Uelsberg

In: Ausstellungskatalog „Sigrid Redhardt“ Deutsches Klingenmuseum Solingen, Museum Mülheim an der Ruhr, Sprengel Museum Hannover, 1998, ISBN-Nr. 3-930315-16-5

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